Text

Text von Asphalt Tiger aus der Veröffentlichung zur Ausstellung „Esther Enzian, Das kostet ihr ein Lächeln“ (2013 / Studio 2o46):

Der Mensch ist dazu da, um bewegt zu werden

Der Mensch: Dies ist das große, immer wiederkehrende Thema von Esther Enzians Malerei. Ein Mensch ist einfach umwerfend! Ein Mensch, dessen Schwächen man auch ruhig mal vergessen kann. Dieser Mensch ist hinreißend – dieser Mensch ist eine Frau.
Jeder meint, einen Menschen schon einmal gesehen zu haben. Doch Esther Enzian zeigt uns diesen Menschen neu. Plötzlich wissen wir, mit aller sinnlichen Gewissheit: Dieser Mensch – das sind wir selbst! Asphalt Tiger wird das schlagartig bewusst. Auf dem Bild sieht er einen Menschen, der einen Menschen sieht (auch wenn ihr Blick aus großen, blauen Augen tief wie ein Morgensee gerade abwesend in die nahe Ferne schweift und damit knapp an ihm vorbeigeht). Asphalt Tiger sieht einen Menschen, der zauberhaft lächelt, wenn sie sich mit der Hand durchs Haar fährt – eine Geste, etwas mechanisch, unwillkürlich, eine Geste, die dennoch immer auf den anderen Menschen, dessen Blicke, dessen Bewunderung gerichtet ist. Asphalt Tiger lächelt zurück und in einer zaghaften Geste fährt auch er sich durch die langen Haare. Wie menschlich er sich in diesem Moment fühlt, und das ganz allein durch den Blick eines anderen Menschen: Der Mensch ist dazu da, bewegt zu werden.
Er bewundert den Menschen. Wie viel Wissen, wie viel Erfahrung ist in seinen Bewegungen doch gespeichert, in der kleinsten unwillkürlichen Bewegung! Bewegungen haben eine lange Geschichte, die bis tief in unsere Kindheit zurück reicht. Das Wissen steckt in den Bewegungen der Fingerspitzen, es steckt in Zehennägeln, Zunge und Zähnen. Asphalt Tiger grübelt und kratzt sich am Hinterkopf. Ja! Das Wissen steckt sogar in unserem Kopf!

Wie sehr einmal gemachte Erfahrungen über Jahrzehnte in Händen, Armen, Köpfen usw. gespeichert sind, merken wir, wenn wir Dinge unserer Kindheit wieder in die Hand nehmen und sie plötzlich wieder in altbekannter Intensität wahrnehmen. Die Weichheit des einst geliebten Kleids, das Flauschige vom längst verstaubten Pelz, die Kühle des alten Perlenohrrings – die Dinge, abgelegt und vergessen vor Jahrzehnten, harren nur der erneuten Berührung, um wieder zum Leben zu erwachen und die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart in der Berührung zu überwinden. Ihre geheimnisvolle Lebendigkeit stiftet einen Zusammenhang, eine Geschichte, und reißt uns unvermittelt aus dem tristen Usw. unseres Roboterdaseins heraus. Sie stellt uns früher heute hin.
Wie gewaltsam erscheint uns jetzt die kategorische Trennung von Menschen und Dingen! Wie sehr sind wir doch auf Dinge angewiesen, um Mensch zu werden! Wie sehr sind wir immer wieder genau dazwischen. Wie sehr laufen wir aber Gefahr, zum Ding degradiert zu werden. Zum „dummen Ding“ etwa!
Aber gleichzeitig: Es ist doch wahr! Wie sehr der Mensch doch unbelebte Materie ist! 90 % Wasser, 10 % Gelatine. Asphalt Tiger denkt an das traurige Geflügel im Supermarkt. Bleich, hart, aufgedunsen und vor allem: eiskalt! So liegt es im Kühlfach. So kommt sich der Mensch immer wieder vor. Und ist er der Feuerglut ausgesetzt, schrumpft er zum Nichts zusammen. Ständig muss der Mensch dieser Tendenz des Lebendigen zum Anorganischen entgegenwirken! Es ist kein Zuckerschlecken! Kniebeuge und Klimmzug, täglich eine Runde schwimmen sind das wenigste, was er tun sollte! Rheumasalbe, Haifischknorpelextrakt, Whirlpool aus dunkelgrünen Badekissen – die Fernsehzeitungen sind voll von Beschwichtigungen, dass die Zukunft nicht schlimmer wird, als sie ist.
Denn davor fürchtet sich jeder Mensch: Kaum hört er das leiseste Knacken in den Gelenken, spürt die geringste Steifheit in seinen Gliedmaßen, die leiseste Einschränkung seiner Beweglichkeit, denkt er an den Tod. Routinen, die sich mit zunehmendem Alter einschleichen, Bewegungen, die ihm selbst natürlich, anderen aber mechanisch und ungelenk erscheinen, bestimmte Versteinerungen der Gesichtszüge, an denen einst neugierig forschende oder lüsterne Blicke abprallen sollten – das menschliche Streben nach Perfektion und Selbststilisierung findet seine Grenzen in der Trägheit der körperlichen Materie. Die zauberhaften Geschöpfe Esther Enzians dagegen blicken nach vorn.
Sie haben eine Vision, eine Utopie.
Sie glauben an uns und unsere Formbarkeit. Heiter und gelassen schauen sie in die Zukunft; ein stilles Leuchten erhellt ihre Gesichtszüge. Dankbar stehen wir davor.
Sie bringen die notwendige Ruhe und Besinnlichkeit mit, um in uns unsere Möglichkeiten und in der Situation die reine Potentialität zu sehen! Sie ruhen im Nullpunkt der Bewegung, aus dem dann alles Weitere hervorgeht. Sie wissen: Der Mensch ist dazu da, bewegt zu werden.

Asphalt Tiger beschallt normalerweise die Welt mit Platten oder beschreibt sie in seinem Blog. Er ist jedoch auch ein großer Fan von Kunst. Vor allem von Esther Enzians.